Geheimtipp Kalabrien: unterwegs im Land des Gaglioppo
Im äußersten Süden des italienischen Festlands liegt Kalabrien, auf der einen Seite umfließt das Thyrrenische Meer die karge Natur, auf der anderen das Ionische Meer. Während die Strände der thyrrenischen Seite einschließlich der Costa Viola durchaus Touristenmagnete sind (von Vorteil: die Nähe zum kleinen Flughafen Lamezia Terme), liegen die ionische Küste und das Weinanbaugebiet Cirò ziemlich ab vom Schuss. Kein Wunder, dass man die längst Zeit von „Le Calabrie“ sprach, von den (verschiedenen) Kalabrien… Dass sich die ca. zweistündige Fahrt von Lamezia nach Cirò aber mehr als lohnt, haben wir bei unserem kürzlichen Besuch anlässlich des Merano WineFestival Calabria „Essenza del Sud“ gelernt.
Merano WeinFestival goes Calabria
Zum ersten Mal machte Anfang Juni das renommierte Merano WineFestival in Kalabrien Station. Cirò und Borgo Saverona waren die Schauplätze des beeindruckenden Gastspiels unter dem Motto „Essenza del Sud“, das WineFestival-Gründer „The WineHunter“ Helmut Köcher gemeinsam mit lokalen Protagonisten organisiert hatte. Mit im Boot: das Landwirtschaftskammer der Region Kalabriens, die Winzer der Appellationen Melissa DOC und Cirò DOC, immerhin eine der ältesten ganz Italiens (gegründet 1969) sowie einige Spitzenköche der Region. Warum sich das Merano WineFestival nach 20 Jahren erfolgreichen Jahren in Südtirol nun (auch) nach Süden orientiert? Man feiere, so Initiator und unermüdlicher Weinimpresario Köcher, „die kulinarische Identität und Biodiversität Kalabriens“. Und rückt damit das bemerkenswerte önokulturelle und kulinarische Erbe dieser uralten Kulturlandschaft wieder ins Rampenlicht. Aktuell ist der kalabresische Wein, sieht man wenigen Global Playern wie Librandi oder auch Ippolito ab, allenfalls eine Fußnote im Gegüge des Weltweinmarkts. Dies liegt zum einen sicher an der Abgeschiedenheit sowie an der Kleinteiligkeit der Weinbaubetriebe, primär aber sicher den hier erzeugten Kleinstmengen: ganz Kalabrien produziert weniger als 1 Prozent des italienischen Weins… Dennoch: die hier aus traditionellen Rebsorten gekelterten Weine haben Potenzial und seit immer mehr der kleinen Weinbaubetriebe auf das Potenzial ihrer Rebsorten und des einzigartigen, sehr vielseitigen Terroirs setzen und umtriebige Winzern wie etwa die sog. „Cirò Boys“ virtuos die Herkunftskarte spielen, tut sich ganz schön was da unten zwischen Thyrrenischem und Ionischem Meer. Aber nicht nur Weine weiß man hier zu machen, auch Feiern und Genießen steht hoch im Kurs. Das Merano WineFestival Essenza del Sud wurde begeistert angenommen, die Altstadt von Cirò und der heute als Eventlocation umgewidmete Weiler Borgo Saverona verwandelten sich an den beiden Festivaltagen zur quirligen Piazza, auf der über 300 Besucher tanzten und die lokalen Weine und kulinarischen Spezialitäten genossen.

Helmut Köcher bei der Eröffnung des Merano WineFestival Calabria am 7. Jun 2025 in Cirò.

Über 3000 Besucher feiern die „Essenza del Sud“ bis spät in die Nacht in Cirò und Borgo Saverona

Immer mit dabei: der Rosato aus der lokalen Rebsorte Galioppo – ein Cirò Rosato DOC.
Kalabrien und der Wein – ein Liebesgeschichte mit antiken Wurzeln
Heute ist Kalabrien nur noch spärlich besiedelt, es gibt wenig Arbeit, das Pro-Kopf-BIP ist das niedrigste Italiens. Viele Kalabresen verließen die Region, gingen in den italienischen Norden oder wanderten aus. Die Bevölkerung von Cirò etwa halbierte sich seit den 1950er Jahren auf heute gerade noch gut 2500 Einwohner, der Ort wirkt (wenn nicht gerade das Merano WineFestival für Rummel sorgt) wie im Dornröschenschlaf, verwittertes Schloss inklusive. Dass der italienische „Stiefelabsatz“ einst ein blühender Kultur- und Wirtschaftsraum war, fällt angesichts dem aktuellen Status Quo schwer sich vorzustellen. Dennoch: vom 8. bis 3. Jahrhundert v. Chr. zählte Kalabrien zur Magna Graecia, dem antiken Großgriechenland. Ein Erbe, das bis in die heutige Zeit Spuren hinterlassen hat: nicht nur Artefakte blieben erhalten (einige beim Anlagen von Weinbergen gefundene Scherben und Figürchen sind im Museum der Familie Librandi zu sehen), in einigen Landesteilen bewahrte der lokale Dialekt sogar bis heute griechische Ausdrucksweisen. Auch die Tradition des Weinbaus geht auf die griechische Antike zurück. Der Wein von Cirò, das in antiker Zeit als Krimisa bekannt war, soll, so erzählt man sich, antiken Helden und Olympioniken wie etwa Milon von Kroton geradezu magische Kräfte verliehen haben. Milon (den man sich, liest man die ihm zugeschriebenen Wundertaten, als eine Art Chuck Norris der Antike vorstellen muss und der mit einer Tochter des berühmten Mathematikers Pythagoras verheiratet war) lebte im 6. Jahrhundert vor Christus im heuten Crotone, das knapp 40 Kilometer südlich von Cirò Marina ebenfalls an der ionischen Küste liegt.
Gaglioppo ist Trumpf. Die autochthonen Sorten Kalabriens.
Ob der Milon kredenzte „Zaubertrank“ bereits aus der heute allgegenwärtigen Rebsorte Gaglioppo gekeltert war, ist indes nicht mit Sicherheit zu sagen. Zu groß ist die Vielfalt der hier traditionell heimischen, autochthonen Sorten. Eine Bandbreite, die selbst für Professor Anna Schneider, die über 40 Jahre Ampelographie (Rebsortenkunde) an der Universität von Turin lehrte und deren Wissen um Morphologie und Unterscheidungskriterien einzelner Rebsorten mit Fug und Recht als einzigartig bezeichnet werden darf. Auch im Ruhestand begleitet sie noch einige Forschungsprojekte, auch der im Weingut Librandi vor gut 20 Jahren von ihr angelegte „Giardino Varietale“ steht bis heute unter ihrer Obhut. Mehr als 200 verschiedene Sorten sind in diesem spiralförmig angelegten Forschungsweinberg zu finden – manche unterscheiden sich sichtbar voneinander, bei anderen wiederum hilft nur eine DNA-Analyse, um ihrer Herkunft auf die Spur zu kommen. Ein anderes Problem sind die Namen der Rebsorten, viele tragen lokale Namen, viele zu sind zu ungenau, (Names-) Verwechslungen konnten hier ebenso aufgedeckt werden wie die spontane Kreuzung verschiedener Sorten identifiziert werden konnten. Warum man diesen Aufwand betreibt? Um die Herkunft zu verstehen, sagt Schneider. Auch um das Terroir Kalabriens zu schärfen und zu sehen welche Sorten sich im heißten, extrem trockenen Klima Süditaliens am besten bewähren. Und nicht nur das: die Rebforschung brachte zutage, das zum Beispiel Mantonico, eine der kalabresischen Leitsorten, ein Elternteil der Sorten Cataratto , Negroamaro und auch Nerello Mascalese ist. Kurzum, Schneider nennt Kalabrien einen perfekten „Playground“ für Önologen: die traditionellen Sorten Gaglioppo, Magliocco und Mantonico sind einzigartig und authentisch, dabei aber durchaus modern und zugänglich in ihrem Geschmacksprofil. Und gerade die ältesten Sorten erweisen sich auch in Zeiten des Klimawandels als extrem stressresistent, wie sich im knochentrockenen Jahr 2024 zeigte. Das aktuell noch unterbewertete Weinland Kalabrien bringt also vieles mit, um sich zu einer angesagten Destination zu mausern. Dass hier ein neues, Bolgheri inspiriertes Investorenmekka entstehen könnten, sei dennoch nicht zu befürchten, so Anna Schneider. Internationale Rebsorten kommen mit dem hiesigen Klima und Terroir nur schwer zu recht. Was man übrigens auch im Hause Librandi gemerkt hat und den vor einigen Jahren begonnenen Schwenk auf bekannte internationale Sorten schnell wieder zugunsten der lokalen Rebstars aufgegeben hat.

Ampelographin bei der Arbeit: Anna Schneider erklärt, an welchen Merkmalen die einzelnen Rebsorten unterscheidbar sind.

Autochthoner Schatz. Über 200 Sorten wachsen im experimentellen Weinberg der Librandis. Angelegt wurde er vor gut 20 Jahren.

In Kalabrien werden die Rebstöcke bevorzugt in der sog. Alberello-Erziehung (Buschreben) kultiviert – ideal im heißen, trockenen Klima der Region.
Rosato? In Kalabrien mehr als ein Modegetränk
Während Weißwein in Kalabrien tatsächlich erst seit ein, zwei Jahrzehnten ein Thema ist, spielt Rosato seit Alters her ein bedeutende Rolle. Er wird aus Gaglioppo gekeltert, früher erfolgte die Pressung und Gärung des Mostes direkt im Weinberg in den charakteristischen kleinen Hütten, den sog. Palmenti. In Stein- oder Betonbecken wurden frisch geernteten Trauben direkt mit den Füßen gestampft. Der Most lief über einfach Rinnen in offene Gärbecken. Oft wurden die Pressen auch durch Eseln oder Pferden angetrieben. Ein auf diese Weise „al palmento“ erzeugter Rosé war immer charakteristisch farbstark – eine Stilistik, die man bis heute in Kalabrien findet. Die kräftige Farbe und das leichte, dem längeren Schalenkontakt zu verdankende Tannin erinnern an die französischen Rosés aus Tavel oder auch an Cerasuolo d’Abruzzo. Inzwischen gibt es freilich auch hier zart rosafarbene Weine nach internationalem Vorbild. Eines aber hat sich nicht verändert: Rosat ist hier an der ionischen Küste die erste Wahl zu den traditionellen Fischgerichten, wie etwa der aus Kleinstsardellen, Fenchelsamen und Paprika (Rezepte gibt es dafür so viele wie Nonnas in ganz Süditalien) zubereiteten Sardela.
Cirò DOC wird DOCG. Eine Appellation im Umbruch.
In ganz Kalabrien gibt es aktuell neun DOC-Gebiete, dazu acht IGP-Zonen. Cirò DOC hingegen war die erste ausgewiesene Qualitätsweinappellation der Region, sie wurde bereits im Jahr 1969 bestätigt. Die DOC umfasst Bianco (mind. 80% Greco Bianco), Rosato (mind. 80% Gaglioppo) und Rosso (mind. 80% Galioppo). Bie letzterem werden verschiedenen Qualitätsstufen unterschieden: Rosso, Superiore, Superiore Riserva, dazu dann auch noch Classico, Classico Superiore sowie Classico Superiore Riserva.
Mit der Cirò DOCG, auf die seit 2019 hingearbeitet wurde und die soeben offiziell bestätigt wurde, schlägt das 9000 Hektar umfassende Weinanbaugebiet von Cirò und Cirò Marina nun ein neues Kapitel auf. Die Herkunft und auch die Stilistik wird enger definiert, Terroir, Biodiversität und die Bedeutung autochthoner Rebsorten rücken in den Fokus. DOCG wird für alle Weine ab Jahrgang 2025 gelten, inwieweit die neue Appellation auch rückwirkend auf den Labels genannt werden darf, ist aktuell noch in der Diskussion. „Diese Anerkennung ist das Ergebnis einer gemeinschaftlichen Arbeit, an der Winzer, Fachleute, Institutionen und das gesamte lokale Weinbaugefüge beteiligt waren“, betont Raffaele Librandi, Präsident des Consorzio die Tutela Vini D.O.C. Cirò e Melissa. „Wir waren von Anfang an überzeugt, dass der Cirò Rosso Riserva alle Eigenschaften besitzt, um zu einem nationalen und internationalen Referenzpunkt zu werden. Mit dem Schritt zur DOCG und der neuen Bezeichnung ‚Cirò Classico‘ möchten wir seine Position weiter festigen und seine Identität mit noch größerer Strahlkraft vermitteln.“
Galioppo in purezza: die Cirò Revolution
Einen anderen, kompromisslosen Weg haben die sog. Cirò Boys (zu denen, nebenbei bemerkt auch zwei Cirò Girls zählen) eingeschlagen. Als man vor 20 Jahren die DOC-Regularien überarbeitete und bis zu 20 Prozent internationaler Rebsorten zuließ, regt sich bei mehr und mehr Winzern Widerstand. Nach und nach formierte sich eine Winzergemeinschaft, die zu 100 Prozent auf Gaglioppo setzt, die auf moderne Kellertechnik und den Ausbau in Barrique verzichtet, naturnah arbeitet und in hohem Maße für Biodiversität einsteht. Seit etwas 2010 kennt man sie als Cirò Boys und insbesondere im (mehr Naturwein affinen) UK sorgten zahlreiche Berichte über die Cirò Revolution für ein kleines Beben in der Weinwelt. Dass man bis heute nur vereinzelte Weine dieser kompromisslosen Winzer außerhalb der Region sieht, liegt an den produzierten Kleinstmengen. Die Qualität ist beeindruckend – es lohnt sich also, nach diesen Weinen Ausschau zu halten!

Die Cirò Boys (and Girls), Bild: Huw Prichard
Cirò Rosso DOCG
9000 Hektar │ über 300 Winzer │ 71 Weingüter
Der Cirò Classico DOCG besteht zu mindestens 80 Prozent aus Gaglioppo. Er ist charakteristisch rubinrot mit granatroten Reflexen, sein intensiver, komplexer Duft lebt von roten Früchten und Gewürzen. Am Gaumen ist er vollmundig, harmonisch und anhaltend, mit einer Entwicklung, die ihn mit der Zeit zunehmend geschmeidiger werden lässt. Diese sensorische Ausgewogenheit entspringt der Synergie von Rebsorte und Terroir: Der Gaglioppo ist seit Jahrhunderten tief im Gebiet von Cirò verwurzelt, wo er von skelettreichen, mineralhaltigen Sedimentböden sowie einem einzigartigen Mikroklima profitiert – beeinflusst vom Ionischen Meer im Osten und den Höhenzügen der Sila im Westen.
Auch wenn ganz Kalabrien weniger als 1 Prozent des italienischen Weins erzeugt: die authentischen Gaglioppo-Weine treffen in einer Weinwelt, die den Herkunftsgedanken immer mehr in den Mittelpunkt stellt, absolut ins Schwarze. Ob die neuen DOCG-Weine oder die Weine der Cirò Revolutionäre – die Bandbreite an Weinen ist so groß wie bemerkenswert. Lassen wir uns also überraschen, wo der Weg hingeht und wie sich der Wein von Cirò im Spannungsfeld zwischen Herkunft, Rebsorten und Terroir in den kommenden Jahre entwickeln wird.
Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Pressereise. Er spiegelt allein unserer redaktionelle Meinung wider. Der Dank geht an das Merano WineFestival Essenza del Sud, smstudio sowie Alessandro Marino von der Italcam München für die Einladung zu dieser Entdeckungsreise.
Wenn dir dieser Text gefallen hat, dann lies doch auch mal einen anderen unserer Reiseberichte. Wie wäre es mit Toskana, Churfranken, Apulien oder Georgien?